Di

10

Mär

2015

10 Tote für ein Trash-Format von TF1

Im Hinterland Argentiniens sind gestern zwei Helikopter zusammengestossen und abgestürzt. Alle 8 Passagiere und die zwei Piloten waren sofort tot. Die Helikopter waren für die Produktion einer Dschungel-Reality-Show für den französischen Privatsender TF1 unterwegs.

 

In meiner Zeit als Chefredaktor und Direktor des Schweizer Fernsehens war es meine schlimmste Horrorvorstellung, einer Familie kondolieren zu müssen, deren Vater oder Mutter während eines Arbeitseinsatzes fürs Fernsehen ums Leben gekommen ist. Wenn Reporter und Kameraleute in ein Krisengebiet flogen, pflegte ich sie vor der Abreise in mein Büro zu zitieren und ihnen einzuschärfen, vorsichtig sein. Der Satz „Keine Kameraeinstellung ist es Wert, Euer Leben zu riskieren“ gehörte immer zu diesen Ermahnungen. Wir organisierten auch Trainings zur Erkennung und Vermeidung von gefährlichen Situationen. Zum Glück ist es nie zu einem schlimmen Unfall oder gar Todesfall gekommen.

 

Und jetzt mussten 10 Menschen für ein Unterhaltungsformat von TF1 sterben. Die Sendung, die Firma ALP („Adventure Line Productions“) produzierte, ist die französische Ausgabe des Reality-Formats „Dropped“ („ausgesetzt“), eine Art Dschungel-Camp auf französisch. Man bezeichnet so etwas generell als Trash-Fernsehen. Unter den Toten sind mehrere ehemalige Spitzensportler, darunter die Seglerin Florence Arthaud und Camille Muffat, Olympia-Siegerin im Schwimmen 2012. Sie hatten sich für das Reality-Format zur Verfügung gestellt.  Wie im Dschungel-Camp von RTL, wo C-Prominente gegen das Vergessenwerden kämpfen, indem sie vor laufender Kamera Kakerlaken verspeisen.

 

Bedeutet der Unfall, dass in Zukunft keine solchen Sendungen mehr produziert werden? Vor zwei Jahren ist bei der TF1-Ausgabe von „Robinson“ ebenfalls ein Mensch gestorben; Produzent war auch da die Firma APL. Gelernt hat man daraus nichts.

 

Die SRG produziert kein Dschungelcamp. Mindestens bisher war es so. Aber ich sehe ständig Sendungen, in denen man Menschen heroisiert, in unverantwortbarer Weise Risiken eingehen. Zum Beispiel indem sie als Freejumper von irgend welchen Felsen springen oder auf Skis senkrechte Couloirs hinabfahren. Sie tun das nicht nur vor, sondern für Kameras von SRF (oder von Firmen, die von SRF beauftragt sind). Offenbar ist man der Ansicht, mit solchen Extrem-Formaten ein jüngeres Publikum ansprechen zu können.

 

Bis jetzt ist dabei, so weit bekannt, nie jemand tödlich verunfallt. Zum Glück. Aber lohnt es sich wirklich, für die nächsten Aufnahmen das Schicksal immer wieder neu herauszufordern?

 

 

 

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Di

24

Feb

2015

Ein wichtiges Urteil aus Strassburg: Danke, fremde Richter

24. Februar 2015

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat heute ein wichtiges Urteil publiziert. Im Fall „Haldimann und andere gegen die Schweiz“, Aktenzeichen no 21830/09, geht es um einen Beitrag der Sendung Kassensturz aus dem Jahr 2003, der zum Teil mit versteckter Kamera gedreht worden ist. Der Beitrag zeigte, wie haarsträubend schlecht (und falsch) Versicherungsagenten ihre Kunden beraten. Einer der anonymisiert gezeigten Berater reichte Strafanzeige gegen die zwei Autorinnen des Beitrags, gegen den damaligen Kassensturz-Chef Hansjörg Utz und gegen mich, damals Chefredaktor von SF, ein.  Das Bezirksgericht Dielsdorf sprach uns 2006 frei, mit der Begründung, der (an und für sich verbotene) Einsatz der versteckten Kamera sei im öffentlichen Interesse erfolgt und deshalb straffrei. Doch das Zürcher Obergericht und das Bundesgericht verurteilten uns 2007 bzw. 2008. Es gebe grundsätzlich keinen Rechtfertigungsgrund für den Einsatz von versteckter Kamera; alles was man mit versteckt gedrehten Bildern beweisen wolle, können man auch anderswie beweisen.

 

Mit Rechtsschutz der SRG haben wir das Urteil in Strassburg angefochten und heute Recht bekommen. Mit 6 zu 1 Stimmen hat die 2. Kammer der Cour européenne des droits de l’homme unsere Beschwerde gutgeheissen. Der gezeigte Sachverhalt, die Qualität der Versicherungsberatung, sei von grossem öffentlichem Interesse („d’un intérêt public très important“). Das Publikum habe sich aufgrund der Darstellung im Beitrag eine Meinung über die Qualität der Beratung bilden können. Da das Gesicht des Versicherungsberaters anonymisiert und seine Stimme nachgesprochen worden sei, seien seine Persönlichkeitsrechte nur sehr beschränkt beeinträchtigt worden („une atteinte limitée“). Jedenfalls seien seine Rechte nicht in einem Ausmass tangiert worden, dass dies eine Einschränkung des Rechts der Medien rechtfertigen würde, Missstände in der Versicherungsberatung zu zeigen. Die gegen mich und die andern vom Bundesgericht Verurteilten ausgesprochenen Strafen seien zwar relativ leicht gewesen. Aber allein die Verurteilung könne die Presse dazu verleiten, auf kritische Beiträge zu verzichten („la sanction prononcée par le juge pénal peut tendre à inciter la presse à s’abstenir d’exprimer des critiques“). Zusammenfassend hält das Strassburger Urteil fest, dass die ausgesprochene Verurteilung in einer Demokratie nicht nötig war („n’était pas nécessaire dans und société democratique“).

 

Das hören wir doch gerne. Ein Erfolg auf der ganzen Linie! Wohlgemerkt, es geht nicht um das Ego von uns vier verurteilten Journalistinnen und Journalisten. Es geht um die grundsätzliche Frage, was die Presse in einer freiheitlichen Gesellschaft darf und was nicht. Mit dem heutigen Urteil aus Strassburg ist das fragwürdige Bundesgerichtsurteil aufgehoben und die Rechte der Medien und damit der Öffentlichkeit werden gestärkt. Danke, fremde Richter!

 

Das heisst nicht, dass in Zukunft zu jedem Thema mit versteckter Kamera gedreht werden soll, überhaupt nicht. Es liegt nun an den Medien selbst, einen verantwortungsvollen, aber auch klugen und mutigen Umgang mit dem Instrument zu definieren und intern durchzusetzen.

 

Meiner Meinung nach soll das Mittel extrem sparsam eingesetzt werden, und zwar nur, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss ein erhebliches öffentliches Interesse an der Aufklärung des Sachverhalt, der behandelt wird, bestehen. Und zweitens darf nur versteckt gedreht werden, wenn der zu beweisende Misstand nicht anders belegt werden kann. Unter dieser Voraussetzung hat der Schweizerische Presserat in der Zeit vor dem Bundesgerichtsurteil den ausnahmsweisen Einsatz von versteckter Kamera geschützt. Ich finde das eine gute Regelung. Ich denke, der Einsatz von versteckter Kamera wäre in einer einstelligen Zahl von Fällen pro Jahr sinnvoll. Es muss und soll auch nicht so häufig sein wie auf deutschen Sendern, wo man fast täglich verdeckt Gedrehtes sieht.

 

Ich habe als Journalist und als Chefredakor immer versucht, unnötigen Ärger zu vermeiden. Beim Drehen mit versteckter Kamera wusste ich, dass es Ärger geben kann. Aber es war nötiger Ärger, weil es um eine grundsätzliche und wichtige Sache geht. Und seit heute weiss ich, dass sich der Ärger gelohnt hat.

 

In allen freiheitlichen Ländern gehört die (dosiert eingesetzte) verdeckte Recherche zum Repertoire des kritischen Fernsehjournalismus. Dank Strassburg gehört auch die Schweiz wieder zu diesem Club.

 

http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/Pages/search.aspx#{"appno":["21830/09"]}

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